Freitag, 16.3.2007
Um den dem Wetterbericht zufolge vorerst letzten frühlingshaften Nachmittag nicht zu verschwenden, stieg ich am Bahnhof Alexanderplatz einfach in den nächstbesten Zug und fuhr mit dem Airport-Express bis Wünsdorf-Waldstadt. Schon vom Zug aus hatte ich ein paar Plattenbauten gesehen, die sich, als ich ihnen entgegen ging, als verfallene ehemalige Wohn- und Gewerbebauten von ca. 1960 erwiesen. Ein ebenfalls leerstehendes, vielleicht 20 Jahre neueres kleines Wohngebiet mit drei, vier niedriggeschossigen Wohnbauten und einer Ladenzeile schloss sich an, und ich ging weiter nach Osten, bis ich den Ortsteil Waldstadt erreichte. Dabei handelt es sich um eine ehemalige Militärsiedlung, die im Kaiserreich errichtet, unter den Nazis stark ausgebaut und nach der Befreiung als Sitz des Oberkommandos der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland bzw. später von der Armee Russlands genutzt wurde, bis sie schließlich in den 90ern in die Hände der Ortsverwaltung fiel.
Von dieser Geschichte des Ortes wusste ich aber nichts, als ich mich näherte und zuerst nur weitere hübsch angeordnete, aber sehr kaputte 60er-Jahre-Wohnbauten sah, an die sich ein paar sanierte Häuser anschlossen, die wieder bewohnt waren. Hier stand plötzlich ein elegant geschwungenes Metallschild vor mir, in das in russischer Sprache „Haus der Offiziere“ eingestanzt war. Ich schlich weiter durch verwilderte Grünflächen und kam schließlich zu einer mit Stacheldraht umzäunten Siedlung. Erst jetzt wurde mir klar, dass ich mich in einer ehemaligen Niederlassung der Roten Armee befand. Hinter dem Zaun erblickte ich ein wunderschönes Kunstwerk: eine freistehende Wand mit dem Relief eines Rotarmistengesichtes in der Mitte und mit einem Mosaik, das junge Menschen zeigt, wie sie sich die Natur und die Wissenschaft erschließen. Vielleicht stand hier früher die Schule für die Kinder der Soldaten; vielleicht sollte das Bild die Rotarmisten aber auch einfach daran erinnern, was zu verteidigen ihr Auftrag war. Um die Wand besser fotografieren zu können, stieg ich durch den Zaun und riss mir am Stacheldraht ein Loch in die Hose.
Am Ausgang des umzäunten Bereiches fand ich noch das Metallgestell eines Schildes, das früher wohl einmal den militärischen Sperrbereich ausgewiesen hatte und in den Farben der russischen Trikolore gestrichen war. In seiner schnittigen Linienführung (und auch von seinem verrosteten Zustand her) erinnerte es mich sehr sehr an die Stadtbezirksschilder, die ich in Woronesch gesehen hatte. Überhaupt sahen die Formen und Muster, die ich an den neueren Gebäuden in der militärischen Zone bewundern konnte, alle viel mehr nach Sowjetunion aus als nach DDR. Beim weiteren Gang durch die Waldstadt kam ich noch zu insgesamt drei Komplexen, die mittlerweile zu Verwaltungs- und Gewerbegebieten umfunktioniert waren, und stieß in einem davon auf eine weitere Merkwürdigkeit: eine Art Appellplatz, bestehend aus drei weißen Stelen und einer Mauer, auf die eine Landkarte mit einigen Pfeilen gemalt war. Ich konnte nicht erkennen, was hier dargestellt war; vielleicht sollten es die Truppenbewegungen während des Zweiten Weltkrieges in dieser Region sein.
Schließlich überquerte ich den lebensgefährlichen Bahnübergang, der Wünsdorf in zwei Hälften teilt, um mir auch noch den westlichen Teil anzuschauen. Hier lag der alte Ortskern, der so aussieht, wie alte Ortskerne eben aussehen: viele kleine Häuser um eine Kirche herum gruppiert. An deren Mauer stand ein Kriegerdenkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs, das lustigerweise angab, sie hätten ihr Leben im Kampf gegen „eine Welt von Feinden“ gelassen. Dass deren Feindschaft nicht von ungefähr kam, sondern in erster Linie Resultat der deutschen Kriegspolitik war, davon findet sich auf dem Gedenkstein kein Wort, aber das ist nicht ungewöhnlich für solche Denkmäler.
Am Kirchplatz befand sich auch der einzige Dönerladen des Ortes (wenigstens hatte es am Bahnhof einen Asia-Imbiss gegeben), bei dem ich mich mit einem Kaffee für meinen weiteren Weg stärkte, der mich am Kleinen und am Großen Wünsdorfer See entlang führte. Über der Wohngegend am See, die mit teilweise ganz hübschen Datschen in der modernen Flachdach-Ästhetik der 50er Jahre durchsetzt war, lagen Rauchschwaden, die aus verschiedenen Gärten aufzogen, in denen Leute Haufen aus abgesägten Ästen verbrannten.
Nachdem ich zuerst gemutmaßt hatte, die hiesigen Jugendlichen würden ihre Freizeit damit verbringen, in der Waldstadt nach Armeehinterlassenschaften zu stöbern, konnte ich hier sehen, dass die Wünsdorfer Jugend, deren sichtbarer Teil aus insgesamt etwa zehn Leuten bestand, das Strandbad zum Chillen vorzieht. Ein bisschen überraschte es mich aber auch, dass ich überhaupt junge Leute zu Gesicht bekam, denn abgesehen von einem immer wiederkehrenden Graffiti, das aus einer stilisierten Ente mit einem Anarchie-A in der Mitte bestand, hatte ich kaum Anzeichen entsprechender Subkultur erblicken können.
Aber auch davon abgesehen war der gesamte Ort so gut wie ausgestorben. Die wenigen Menschen, die überhaupt auf der Straße gingen oder vor ihren Häusern standen, schauten mich aufmerksam an, was mir zwar sehr unangenehm war, was ich aber auch verstehen kann: Wenn man in solch einem Ort lebt, in dem nie etwas passiert, ist jede Unregelmäßigkeit, jeder unbekannte Mensch eine kleine Sensation.
Mit gemischten Gefühlen bestieg ich den Zug zurück nach Berlin. Der interessanteste Teil von Wünsdorf, die Waldstadt, hatte in seinem verwitterten Zustand ein trostloses Bild geboten. Wie gern hätte ich diese Gegend zu der Zeit erlebt, als hier noch die Rote Armee auf Posten stand, aber jetzt hatte ich nur noch ihre Ruinen besichtigen können, und selbst von diesen war mir der größte Teil durch Zäune und das immer wiederkehrende Schild „Betreten verboten - der Eigentümer EWZ Wünsdorf / Zehrensdorf“ versperrt geblieben. Der begehbare Teil Wünsdorfs dagegen hatte zwar durch seine Seenlage einen gewissen Reiz, war aber davon abgesehen ziemlich langweilig gewesen. Hinzu kam, dass mir erst durch ein Schild am Bahnhof klar wurde, dass ich die „Bücherstadt“, einen Komplex aus mehreren Antiquariaten und Museen, der mit der Aussicht auf „über 60.000 Bücher“ (oder waren es gar 600.000?) warb, verpasst hatte. Nun gut, vielleicht kehre ich bei Gelegenheit zurück, um das nachzuholen. Dann sollte ich aber vielleicht eine Zange im Gepäck haben, um mich bei der weiteren Erkundung des Truppengeländes nicht mehr vom Stacheldraht schrecken zu lassen...
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