Sonntag, 22. Juni 2008

Ein Ausflug nach Buch


Der zu Berlin gehörige Ort Karow hätte, soweit ich überblicken konnte, an sich nichts zu bieten, was einen Besuch rechtfertigen würde, wäre da nicht seine vorteilhafte Lage: Durchwandert man ihn nämlich in Richtung Norden, dann gelangt man unter einer Autobahnbrücke des Berliner Rings hindurch in die ebenfalls ins Berlinische eingemeindete Ortschaft Buch, wobei der erste Eindruck durch ein Wohngebiet aus sechsgeschossigen Plattenbauten gebildet wird. Hier werden Reisende von zwei freundlichen, von Stephan Horota geschaffenen Giraffen begrüßt.






Bald hierauf gelangt man zu einem Exemplar von Kunst im öffentlichen Raum, das sehr anschaulich zeigt, zu welcher Höhe gerade diese Form der Kunst im Sozialismus gelangen konnte. Es handelt sich dabei um das 1976 von H. Schulz und W. Petrich geschaffene Keramikrelief “Lernen und Freizeit” an einer Außenmauer, die den Eingang zum Schulhof der Hufeland-Oberschule weist. Gegenstand des Werkes ist, ganz profan, das alltägliche Leben der Menschen, und zwar junger Menschen, denn wahrscheinlich werden es vor allem solche gewesen sein, die hier bei Entstehung des Wohngebietes einzogen. Kinder lassen Drachen steigen – in der Schule lernen sie anhand von Bildern und Präperaten etwas über Vögel, während im Hintergrund Bilder von Juri Gagarin und Karl Marx an der Wand hängen – ein junges Paar beim Schwimmen – die Erbauer des Wohngebietes, dessen eine Betongroßplatte im Hintergrund zu sehen ist, werden von einer Pionierdelegation begrüßt – ein Paar (das gleiche wie vorhin?) durchtanzt die Nacht und wirbelt dabei den gesamten Sternenhimmel des Sonnensystems um sich herum – eine internationale Gruppe junger, hippieartig aufgemachter Menschen musiziert (die X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Berlin lagen zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Kunstwerks erst drei Jahre zurück) – eine junge Familie picknickt am Strand. Geht man nach links, so merkt man erst, dass noch ein weiteres Bild zu dem Zyklus gehört, das sich auf einem rechtwinklig abgeknickten Stück der Mauer befindet: Kinder stehen vor einer Wand, auf die sie ein Bild der Schule malen. Die malenden Kinder sind als Reliefs abgehoben, während ihr in kindestypischen Formen gehaltenes Bild flach in den Ton eingeritzt ist (durch ebensolche Gestaltung sind auch die Bilder an den Wänden des Klassenzimmers als Bilder kenntlich gemacht, im Unterschied zum als Relief dargestellten lebendigen Tun der Schüler). So wird als Abschluss der Anlage formuliert, dass Jede und Jeder, die und der hier zur Schule geht, auch selbst künstlerisch tätig werden kann. Das zeigt sich auch an der Platzierung der malenden Kinder, die eine Ebene tiefer stehen als der ganze Rest der Bilder, so als wären sie nicht selbst Teil des Kunstwerks, sondern auf einer Stufe mit den Künstlern, die dieses Werk geschaffen haben.



Erfüllt von Eindrücken begeben wir uns in Richtung des ausgedehnten Bucher Klinikgeländes, auf dem sich Bauten aus fast allen architektonischen Strömungen des 20. Jahrhunderts versammeln: vom historisierenden Ekklektizismus über das Neue Bauen bis hin zu Spuren aus jedem Jahrzehnt Baugeschichte der DDR. So vereinigt die hier abgebildete Robert-Rössle-Klinik an einem einzigen Gebäude die letzten Ausläufer der “nationalen Bautradition” (ersichtlich noch in der Gliederung der Fassade) und eine geradezu überschwengliche Umarmung der internationalen Moderne (der Eingangsbereich ist baulich und vom Dekor her ganz in dynamischen, asymmetrischen Formen gehalten).



Durch den teilweise recht verwilderten Schlosspark hindurch gelangen wir schließlich an unser Ziel: ein Bücherbasar auf einem ehemaligen Werksgelände, bei dem wir uns mit allerlei Nützlichem und Angenehmem eindecken können. Auf einer Bank im Wohngebietszentrum beim S-Bahnhof, das leider seit meinem letzten Besuch komplett abgerissen und durch neue Ladenbebauung mit engen Gassen ersetzt wurde (nur eine Kaufhalle steht noch, wird aber momentan auch geräumt), blättern wir in unseren neuen Büchern und nehmen aus den Augenwinkeln noch wahr, wie ein kleines Mädchen ihrer Mutter imponieren will, indem sie die vor uns stehende “Gänsegruppe” Nikolaus Bodes erklettert. Ich fühle mich erinnert an meine Lieblingspassage aus Georg Piltz' “Mit der Kunst auf du und du” (Verlag Neues Leben, Berlin 1974), und will diesen Beitrag damit schließen:


Kinder “benutzen die Plastik als Mal beim Haschen, als Sitzgelegenheit oder auch als Klettergerüst. Für sie gehört das Kunstwerk einfach zu ihrer natürlichen Umwelt, es ist für sie in einem schönen Sinne selbstverständlich geworden ... Vielleicht ist dies die wichtigste Funktion der 'Kunst am Wege': Sie erlöst die Kunst aus ihrer musealen Abgeschiedenheit, in die sie von der Bourgeoisie verbannt war, und befreit den Menschen von einer Betrachtungsweise, die angesichts einer sich ständig verändernden Welt ebenfalls museal anmutet. Wir lernen mit der Kunst wie mit unseresgleichen umzugehen und sie eindringlich zu befragen, statt sie nur ehrfürchtig zu bestaunen.” Hoffen wir, dass die Kletterpartie für das Bucher Mädchen einen solchen Anfang zur Kunstliebe bildet – sollte sie die Hufeland-Oberschule besuchen, hätte sie jedenfalls bereits auf dem Schulweg beste Voraussetzungen dazu.


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